Von Natur aus promisk (nicht monogam)
Eine Begriffsklärung vorweg: Das Wort „promisk“ hier, wie auch in den folgenden Abschnitten, bezeichnet ausschließlich (ohne abwertenden Beiklang), mehrere Sexualpartner zugleich zu haben. Ein promiskes Sexualverhalten ist auch nicht gleichzusetzen mit Beliebigkeit bei der Partnerwahl. Anziehung, Sympathie und sexuelle Vorlieben spielen weiterhin eine Rolle. Bezüglich unserer nächsten Verwandten, Schimpansen und Bonobos, beschriebt es der Primatologe Alan F. Dixson so: "Eine Vielzahl von Faktoren, darunter Verwandtschaft, sozialer Rang, sexuelle Attraktivität und individuelle sexuelle Vorlieben spielen bei beiden Geschlechtern eine Rolle."
Bei der Suche nach den Ursprüngen menschlichen Verhaltens wie Werkzeuggebrauch, politische Bündnisse, Konfliktverhalten, Empathie etc. haben Anthropologen und Evolutions-Wissenschaftler immer wieder Parallelen zu Schimpansen und Bonobos gezogen. Wenn es jedoch darum ging, die Monogamie als den natürlichen Grundpfeiler menschlichen Zusammenlebens zu begründen, gerieten erstaunlicherweise die Verbindungslinien zu den deutlich entfernter verwandten, weniger intelligenten Gibbons in den Blickpunkt. (Wie beim Primaten-Sex bereits erwähnt, sind Gibbons die einzigen monogam lebenden Primaten.) Und beim Bemühen, das Modell „Harem“ evolutionär zu begründen, war es naheliegend, das Alpha-Tier-fixierte Paarungsverhalten der Gorillas heranzuziehen.
Fassen wir daher nochmal kurz die biologischen Gemeinsamkeiten zwischen Schimpansen, Bonobos und Menschen zusammen:
- der geschlechtsspezifische Größenunterschied von ca. 10-20%,
- das im Vergleich zur Körpergröße beträchtliche Hodenvolumen
- die - sehr verletzliche - Lage der Hoden außerhalb der Körpers, wo die kühleren Temperaturen genügend Samenzellen für multiple Ejakulationen ermöglichen
- die hohe Gesamtanzahl an Spermien in einem Ejakulat
- eine Libido, die deutlich über das hinausgeht, was für monogame Paarung benötigt wird
In diesem Kontext erinnere ich gerne daran, dass die sexuelle Erregung von Frauen meist dann auf einem hohen Niveau ist, wenn die Erregung des Mannes nach seinem Orgasmus einen steilen Absturz erlebt (siehe unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse). Der vergleichsweise rasche männliche Höhepunkt mit anschließender Ermattung harmoniert also wenig mit dem lang anhaltenden Erregungsniveau der weiblichen Libido und deren Fähigkeit zu multiplen Orgasmen. Dieses Missverhältnis führt heutzutage nicht gerade selten zu sexueller Frustration. Es scheint erst dann wieder einen Sinn zu ergeben, wenn Frauen sich - in grauer Vorzeit - mit mehreren Männern gepaart haben.
Es deutet also einiges darauf hin, dass ein promiskes Paarungsverhalten auch in der Entwicklungsgeschichte der Spezies Mensch genetisch verankert ist. Der weibliche Orgasmus legt dies ebenfalls nahe, denn gemäß der Erkenntnisse von Primatenforschern sind Arten, bei denen die Weibchen Orgasmen haben, tendenziell promiskuitiv. Ein Forscher fasst es so zusammen: "Ohne Spermienkrieg im Verlauf der Evolution zum Menschen hätten Männer winzige Genitalien und würden nur wenige Spermien produzieren. Es gäbe nicht die stoßenden Bewegung beim Verkehr, keine sexuellen Träume und Fantasien, keine Masturbation, und jeder von uns hätte in seinem gesamten Leben nur ein gutes Dutzend Mal Lust auf Geschlechtsverkehr. Sexualität und Gesellschaft, Kunst und Literatur, ja die gesamte menschliche Kultur wäre völlig anders geartet.“
Basierend auf den dargestellten Forschungsergebnissen lässt sich folgern, dass die Natur bzw. die Evolution zwei Fortpflanzungs-Strategien hervorgebracht hat, um die eigenen Gene weiterzugeben und die Gen-Auswahl zu optimieren: sowohl die Spermien-Selektion in den weiblichen Fortpflanzungsorganen als auch die genetische Selektion in der sozialen Welt (Status, Jugend, körperliche Attraktivität etc.). Diese beiden Strategien widersprechen sich nicht. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass sie zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten der Evolution ihren Platz hatten.
Interessanterweise geben beide Modelle hinsichtlich der Frage nach dem naturgegebenen Sexualverhalten des Menschen eine ähnliche Antwort – jedoch mit jeweils unterschiedlichen Argumenten. Im Genoptimierungs-Modell will einerseits der Mann seinen Samen breitest streuen und andererseits die Frau sich während ihrer fruchtbaren Tage dem Mann mit den besten Genen hingeben. Und das Spermienkonkurrenz-Modell fundiert auf der Annahme eines promisken Paarungsverhaltens beider Geschlechter. Beide Modelle bieten also Erklärungsansätze, warum uns Monogamie offensichtlich so häufig schwerfällt. Ergänzend dazu werfe ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch einen Blick auf sexuelle Bräuche heute noch wildlebender Völker.
Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.
(Antoine de Saint-Exupéry)