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Sexualität bei Naturvölkern


Betrachten wir die evolutionären Wurzeln menschlichen Paarungsverhaltens sind auch die sexuellen Bräuche und Riten aufschlussreich, die sich bei heute noch wildlebenden Völkern entwickelt haben und dort immer noch gültig sind. Damit jeder Leser seine eigenen Rückschlüsse ziehen kann, möchte ich einen wertfreien Überblick über das Sexual- und Paarungsverhalten dieser Naturvölker geben. Die im Folgenden beschriebenen sexuellen Verhaltensmuster sind dort „normal“ - d.h. sie entsprechen den jeweils gesellschaftlich akzeptierten Normen. (Als Quelle dienten Berichte von Anthropologen aus dem Buch „Sex - die wahre Geschichte“ von Christopher Ryan & Cacilda Jetha.)

In vielen früheren, aber auch noch heutigen südamerikanischen Gesellschaften (aber z.B. auch bei einem Volk in Papua-Neuguinea) wird die Entstehung eines Fötus auf die Ansammlung der Samen mehrerer Väter zurückgeführt. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass nach der ersten Befruchtung jeder weitere Geschlechtsverkehr (also jeder zusätzliche Samen) den Fötus wachsen lässt. Vor diesem Hintergrund trachten Frauen danach, sich mit den besten Jägern, den stärksten Kämpfern etc. zu paaren, um deren genetischen Beitrag ihrem Kind zugutekommen zu lassen. Diese Form geteilter Vaterschaft wirkt zwischen den beteiligten Männern verbindend und trägt zur Bereitschaft einer gemeinschaftlichen Versorgung des Kindes bei.

Bei den Canela (ein indigenes Volk im brasilianischen Amazonasgebiet) hat die Gruppe einen enormen Stellenwert. Viel wichtiger als das Individuum ist der eigene Stamm. Großzügigkeit und Teilhabe gelten als Ideal, Missgunst und Eigennutz dagegen als gesellschaftliches Übel. Achtung erlangt, wer seine Besitztümer teilt, und so war es auch nur konsequent, den eigenen Körper zu teilen. Über die eigenen Besitztümer und sich selbst bestimmen zu wollen, wurde als eine Form von Geiz angesehen. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen äußern deutlich ihre sexuellen Bedürfnisse und beide Geschlechter sind jeweils nur allzu bereit, diese zu befriedigen.

Bei den im Amazonasgebiet lebenden Kulina gibt es ein Ritual, bei dem die Frauen des Dorfes in der Morgendämmerung von Haus zu Haus ziehen, für die darin lebenden erwachsenen Männer singen und ihnen befehlen, auf die Jagd zu gehen. Bei jedem Haus treten ein oder mehrere Frauen aus der Gruppe vor und schlagen mit einem Stock dagegen: falls die Männer dieses Hauses Jagdbeute mitbringen, werden die Frauen die Nacht mit ihnen verbringen. Den Frauen in der Gruppe ist es nicht gestattet, den eigenen Ehemann zu wählen. Mit gespieltem Widerwillen erheben sich nun die Männer aus ihren Hängematten und brechen in den Dschungel auf, doch bevor sie sich trennen und unabhängig voneinander auf die Jagd gehen, vereinbaren sie eine Zeit und einen Ort außerhalb des Dorfes, an dem sie sich später wiedertreffen und die Beute aufteilen. So ist garantiert, dass jeder Mann mit Fleisch ins Dorf zurückkehrt und alle Sex haben.

Unter den Siriono in Bolivien entsteht Eifersucht meist nicht deshalb, weil einer der Ehepartner einen Geliebten oder eine Geliebte hat, sondern weil er oder sie zu viel Zeit und Energie für seine Geliebten aufwendet. Das Konzept der romantischen Liebe ist den Siriono unbekannt. Sex ist ein Trieb wie Hunger, der befriedigt werden muss. Der Ausdruck "secubi" ("ich mag") wird dort für alles verwendet, von Essen und Schmuck bis hin zu Sexualpartnern. Eine Hochzeit findet dort ganz ohne Zeremoniell oder Ritual statt. Es wird kein Besitz überreicht, keine Schwüre werden abgelegt, noch nicht einmal ein Fest wird veranstaltet. Es genügt, eine Hängematte neben der Auserwählten anzubringen, und schon ist man verheiratet.

Unter den Warao, einer in den brasilianischen Wäldern lebenden Gruppierung, werden die normalen Verwandten in regelmäßigen Abständen weggeschickt und durch „rituelle“ Verwandte ersetzt. Während dieser Feierlichkeiten dürfen die Erwachsenen mit jedem gewünschten Partner Sex haben. Diese Beziehungen gelten als Ehre und sollen sich positiv auf alle Kinder auswirken, die daraus hervorgehen.

Die Pirahã, ein in den Urwäldern Brasiliens lebendes indigenes Volk, erlauben zwar keine Heirat außerhalb ihres Stammes, doch halten sie schon lange ihren Genpool frisch, indem sie ihren Frauen gestatten, mit Männern von außerhalb zu schlafen.

Bei den Matis, ein ebenfalls indigenes Volk in Brasilien, wird außerehelicher Sex nicht nur häufig praktiziert, sondern scheint in vieler Hinsicht sogar Vorschrift zu sein. Ob verheiratet oder nicht, hat man die moralische Pflicht, auf die sexuellen Avancen eines Kreuzverwandten einzugehen, da es sonst heißt, man würde mit den eigenen Genitalien geizen - ein Verstoß gegen den Moralkodex der Matis, der weit schwerer wiegt als offene Untreue.

Die Aché in Paraguay bezeichnen einen Mann und eine Frau als verheiratet, wenn sie in derselben Hütte schlafen. Bringt aber einer von ihnen seine oder ihre Hängematte in eine andere Hütte, dann sind sie nicht länger verheiratet.

Bei den Moso in China werden sexuelle und familiäre Beziehungen strikt getrennt. Von den Moso-Männern wird erwartet, dass sie nachts bei ihren Geliebten übernachten, ansonsten schlafen sie in einem der äußeren Gebäude, niemals aber mit ihren Schwestern im Haupthaus. Die Sitte verbietet es, im Haus der Familie über Liebesangelegenheiten zu sprechen, von allen wird vollkommene Diskretion verlangt. Sowohl Männer als auch Frauen genießen alle Freiheiten, nur müssen sie die Privatsphäre des anderen respektieren. Enthüllungen über skandalöse Liebesaffären gibt es dort nicht. Die Autonomie des Individuums - ob von Frau oder Mann - gilt den Moso als heilig. Nicht nur steht es Männern wie Frauen frei, so viele Beziehungen zu unterhalten, wie sie wollen, jeder kann auch Beziehungen zu mehreren gleichzeitig haben, ob nur während einer Nacht oder über einen längeren Zeitraum. Diese Beziehungen werden immer wieder unterbrochen, sie bestehen nur so lange, wie sich zwei Menschen begegnen. Bricht ein Besucher vom Heim der Frau auf, dann endet die Beziehung. Es gibt dabei kein Konzept von einer Zukunft. Die Beziehung existiert nur im Augenblick. Dabei kann ein Paar die Besuche jedoch so lange fortsetzen, wie es das wünscht. Scham über Dutzende von Beziehungen gibt es dort nicht. Scham wäre allenfalls dort angebracht, wenn jemand die Treue verspräche oder forderte. Ein Treueschwur gilt als unangemessen, als der Versuch eines Handels. Offene Eifersucht empfinden die Moso als Aggression, da sie die geheiligte Autonomie eines anderen Menschen untergräbt - sie bereitet Schande und wird mit Spott bedacht.

Die Bewohner der Trobriand-Inseln, einer Inselgruppe in Papua-Neuguinea, halten bis heute zur Erntezeit ein Fest ab, bei dem Gruppen junger Frauen über die Insel ziehen und Jagd auf Männer machen, die nicht aus ihrem eigenen Dorf stammen. Und denen sie angeblich die Augenbrauen abbeißen, wenn diese sie nicht zufriedenstellen.

Bei den Inuit ist der systematische Tausch von Ehepartnern ein zentrales Element ihrer Kultur. Unter den verstreut lebenden Familien wurde auf diese Weise ein festes soziales Netz geknüpft, auf das in Krisenzeiten Verlass war.

Bei all diesen Beispielen - überwiegend promisker - Sexualität ist zu bedenken, dass sich das Leben wildlebender Gesellschaften üblicherweise in Gruppen von 100 bis 150 Menschen abspielt (ebenso wie in den frühen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften). Beim Vollzug der beschriebenen sexuellen Gepflogenheiten wird also jeder - ob Mann oder Frau - seine Sexualpartner gut kennen und einschätzen können. Vermutlich genauer als bei so manchen Affären in unserem Kulturkreis.

Natürliche Bedürfnisse und kulturelle Einflüsse scheinen also sowohl in uns als auch in unseren partnerschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen miteinander zu ringen.

Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.

(Antoine de Saint-Exupéry)