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Flexible weibliche Lust/ Sexualität


Einiges deutet darauf hin, dass die sexuelle Zurückhaltung von Frauen eher kulturell als biologisch bedingt ist. So legt bspw. ein recht aussagekräftiges Experiment den Schluss nahe, dass Frauen von Natur aus sexuell variabler sind als Männer. Sie haben nur oft keinen so unmittelbaren Draht zu dem, was sie stimuliert oder erregt. Hierbei wurde untersucht, wie unterschiedlich Frauen und Männer auf verschiedene Sexfilme reagieren (Mann-Frau, Mann-Mann, Frau-Frau, masturbierender Mann, masturbierende Frau, muskulöser Typ, unbekleidete Frau, kopulierende Bonobos). Gemessen wurde der Blutfluss in den Genitalien der Probanden. Darüber hinaus sollten sie angeben, wovon sie sich erregt fühlten.

Im Ergebnis fühlten sich Männer ausschließlich durch die Szenen erotisch angesprochen, die ihrer jeweiligen sexuellen Orientierung entsprachen. Ihre Angaben stimmten mit den körperlich gemessenen Reaktionen überein. Im Gegensatz dazu wurde bei den Frauen bei so gut wie allen Sexfilmen Erregung gemessen - unabhängig von ihren sexuellen Neigungen. Verblüffenderweise gaben mehrere jedoch an, bei einigen Filmen keinerlei Erregung zu spüren, so dass es eine teilweise sehr deutliche Diskrepanz zwischen der körperlichen Reaktion und der bewussten Wahrnehmung gab. 

Ein anderes Experiment, bei dem unterschwellig wahrnehmbare Bilder eingesetzt wurden, ergab ein ähnliches Ergebnis: Schwule und heterosexuelle Männer sowie lesbische Frauen reagierten jeweils so, wie es ihrer sexuellen Orientierung entsprach. Heterosexuelle Frauen hingegen sprachen auf nahezu alles an. Diese Form der Offenheit wird von einer anderen Untersuchung bestätigt, die sich mit dem Zusammenhang zwischen sexueller Orientierung und Triebhaftigkeit von Männern und Frauen beschäftigte. Bei einem stark ausgebildeten Sextrieb waren heterosexuelle Männer nur auf Frauen, schwule Männer ausschließlich auf Männer fokussiert. Bei heterosexuellen Frauen dagegen verhielt es sich genau umgekehrt. Je höher die Libido einer Frau, desto wahrscheinlicher fühlte sie sich zu Männern und Frauen hingezogen. Nur bei lesbischen Frauen ergab sich ein ähnliches Muster wie bei den Männern, die sexuelle Orientierung wurde also mit wachsendem Trieb spezifizierter.

Dies erklärt recht gut, warum sich beinahe doppelt so viele Frauen wie Männer als bisexuell empfinden, aber nur halb so viele als ausschließlich homosexuell. Mehrere Untersuchungen heterosexueller Paare, die an Gruppensex oder Swinger-Partys teilnehmen, bestätigen dies. Dabei ist es nämlich nicht unüblich, dass Frauen Sex mit anderen Frauen haben, während Männer sich fast nie auf Männer einlassen. Dazu passt das Ergebnis einer sexualwissenschaftlich-anthropologischen Untersuchung, nach der Frauen in Gesellschaften, in denen es keine einschränkende Sexualmoral gibt, genauso aufgeschlossen gegenüber wechselnden Sexualpartnern sind wie Männer.

An dieser Stelle verweise ich gerne auf ein recht aktuelles Interview mit der amerikanischen Autorin Wednesday Martin, deren Erkenntnisse zur weiblichen Lust und der sexuellen Flexiblilität von Frauen die hier angeführten Forschungsergebnisse untermauern: ZEIT-Gespräch vom 8. November 2019

Die weibliche Sexualität scheint also überaus flexibel und offen für unterschiedlichste erotische Reize zu sein. Wenn sich Frauen ihrer körperlichen Reaktionen auf das, was sie erotisch anspricht, nicht immer bewusst sind, finden sich insb. kulturelle Gründe dafür.

Reifende sexuelle Bedürfnisse

Neben der beschriebenen Offenheit für verschiedenste Stimuli ist die weibliche Sexualität nicht nur flexibler als die männliche, sie bleibt auch länger formbar. Forscher, die sich mit diesem Gebiet beschäftigen, sprechen von „erotischer Plastizität“ (diesbezügliche geschlechtsspezifische Unterschiede sind übrigens auch bei anderen Arten festzustellen).

Konkret meint dieser Begriff, dass Frauen Sexualität oft in einer größeren Bandbreite erleben. Die männliche Sexualität ist vor allem während der Pubertät und der Adoleszenz stark formbar, verändert sich danach aber in den meisten Fällen nur noch graduell. Demgegenüber kann sich die Sexualität von Frauen noch bis zur Menopause (und teils darüber hinaus) nennenswert verändern. Sie reagieren flexibler auf positive wie negative erotische Erfahrungen und sind in der Regel sexuell offener und anpassungsfähiger – vor allem zu Beginn einer Partnerschaft.

Die These, dass sich die weibliche Sexualität mit zunehmender Lebenserfahrung weiter entwickelt, wird auch durch eine andere Untersuchung erhärtet. So ergab eine Befragung von Frauen im Alter zwischen Anfang 20 und Ende 50, dass für knapp zwei Drittel der Frauen unter 35 Jahren Sex nicht vorrangig körperlich, sondern emotional motiviert war. Bei Frauen hingegen, die älter als 35 Jahre waren, war das Verhältnis zwischen emotionaler und körperlicher Motivation für Sex genau umgedreht. Hier gaben knapp zwei Drittel der Frauen vorrangig körperliche Bedürfnisse an. Ein Grund könnte sein, dass sich die sexuellen Beweggründe von Frauen mit dem Alter ändern. Genauso plausibel ist es jedoch, dass Frauen mit zunehmender Reife sowohl lernen, ihre körperlichen Bedürfnisse besser wahrzunehmen, als auch zu ihnen zu stehen.

Die bisher beschriebenen Sachverhalte sowie die sich daraus ableitenden Erkenntnisse legen zwei Schlussfolgerungen nahe:

1. Die weibliche Sexualität wird seit jeher unterschätzt, insb. in ihrer Vielgestaltigkeit und Bandbreite

2. Die über Jahrhunderte manifestierte kulturelle Prägung weiblicher Lustlosigkeit wirkt - trotz zahlreicher emanzipatorischer Bewegungen - bis in die heutige Zeit hinein. Sie beeinflusst, wie Frauen ihren Körper und ihre sexuellen Bedürfnisse wahrnehmen und wie offen sie zeigen können, was sie sich wünschen und brauchen.

Eine besonders drastische kulturelle Umformung weiblicher Lust finden wir im folgenden Abschnitt über die noch bis vor etwa 60 Jahren diagnostizierte, ausschließlich weibliche Krankheit der Hysterie. Und wie gut das Dogma der weiblichen Unlust zu unseren biologischen Wurzeln passt, wird ausführlich in Kapitel 2 betrachtet.

Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.

(Antoine de Saint-Exupéry)