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Sexualität im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur


Betrachten wir einerseits unsere biologisch-sexuellen Wurzeln im zweiten Kapitel  und andererseits die verschiedenen kulturellen Einflüsse im dritten Kapitel liegt das Fazit nahe, unsere Sexualität heute als ein Produkt aus Natur und Kultur zu betrachten. In „Lustlos, aber hysterisch“ am Ende des ersten Kapitels habe ich anhand eines sehr spezifischen Beispiels beschrieben, welchen kulturellen Umformungskräften sexuelle Bedürfnisse immer wieder ausgesetzt waren. Es verdeutlicht, welchen widerstreitenden Energien zwischen kulturellen Normen und evolutionärem Erbe Menschen ausgesetzt waren und sind.

Nur zur Klarstellung: Wenn wir davon ausgehen können, dass Polygamie über Hundertausende von Jahren „natürlich“ war, heißt das nicht, dass die sich anschließende Entstehung monogamer Gesellschaftsmodelle „unnatürlich“ ist. Der Mensch ist sehr anpassungsfähig, insbesondere ggü. sich wandelnden sozio-ökonomischen Lebensbedingungen. Wie wir gesehen haben, gab es nachvollziehbare Gründe, warum das Paarungsverhalten in einer von Agrarwirtschaft geprägten Gesellschaft ein anderes ist als in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften. Insofern ist Monogamie ein natürlicher Gesellschaftsbestandteil der kulturellen Entwicklungen, die uns über Hunderte von Generationen geprägt haben. Wäre dies nicht so, hätte sexuelle Exklusivität nicht einen so hohen Stellenwert im emotionalen und moralischen Empfinden einer breiten Bevölkerungsmehrheit.

Derzeit gibt es zwei kulturell verankerte Norm-Modelle von Liebesbeziehungen und Sexualität: in der überwiegenden Anzahl heutiger Kulturen ist eine monogame Paarbindung der Standard (und wird über zahlreiche staatliche Förderungen unterstützt); in einem kleineren Teil haben sich polygyne Beziehungsformen etabliert (ein Mann, mehrere Frauen). Damit korrespondiert die weit verbreitete Vorstellung, dass Frauen ein monogames Modell präferieren, wohingegen Männer lieber polygyn leben und lieben möchten. D.h. insbesondere Frauen verstoßen gegen gängige Normen und Werte, wenn sie ihr biologisch geprägtes, sexuelles Verlangen ausleben wollen.

Hier schließt sich der Kreis zu dem, was ich im ersten Kapitel als Spannungsfeld unserer Sexualität beschrieben habe. Die Erfahrung zeigt, dass zahlreichen Konflikten die meist widersprüchlichen Bedürfnisse aus sexuellem Begehren und romantischer Liebessehnsucht zugrunde liegen. Diesen widerstreitenden Kräften sind wir sowohl in uns selbst als auch in unseren Beziehungen ausgesetzt.

Somit stellen sich folgende Fragen: Wohin mit unserer Lust? Und wohin mit unserem Wunsch nach Sicherheit und Zugehörigkeit? Müssen wir mit diesem Bedürfniskonflikt leben oder lassen sich beide in Einklang bringen? Und falls ja, auf welchem Weg?

Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.

(Antoine de Saint-Exupéry)