Entwicklungschancen von Sexualität in Liebesbeziehungen
Die meisten unserer heutigen Beziehungen basieren immer noch auf der Vorstellung, die Institution der Ehe mit dem Ideal romantischer Liebe dauerhaft und stabil verbinden zu können. In meinen Ausführungen zu Natur vs. Kultur habe ich versucht aufzuzeigen, durch welche inneren und äußeren Konflikte wir dabei an Grenzen stoßen. Können wir diese Grenzen verschieben? Inwieweit kann es uns gelingen, unser Begehren, Sehnen und Wünschen zu beeinflussen oder gar zu steuern? Vielleicht hilft bei der Beantwortung dieser Fragen eine m.E. treffende Erkenntnis von Artur Schopenhauer weiter: Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.
Wie wir es drehen und wenden, immer wieder landen wir in dem Spannungsfeld zwischen den uns prägenden gesellschaftlichen Normen und unserem bereits wesentlich länger geprägtem Wollen. Klafft beides auseinander blicken wir auf die Soll-Bruchstellen in uns selbst und in unseren partnerschaftlichen Beziehungen. Zur Aufrechterhaltung unseres romantischen Liebesideals des „Alles mit Einem für immer“ suchen wir nach Stabilität, machen die Räume eng. Für uns, unseren Partner und unsere Beziehung. Auf dem Altar der Sicherheit opfern wir unsere Lebendigkeit und damit auch einen Teil unserer Entwicklungsmöglichkeiten. Auch dies ist ein Grund, warum Beziehungen häufig scheitern. Sie ersticken an der fehlenden Dynamik, die jede Partnerschaft lebendig bleiben lässt.
Die Frage nach dem jeweils geeigneten Beziehungsmodell ist eine Frage nach den individuellen Präferenzen. Nach den eigenen Bedürfnissen und denen des Partners. Nicht nur den sexuellen, aber auch. Für den einen mehr, für den anderen weniger. Ob die - serielle - Monogamie oder eine offene Beziehung (bzw. Polyamorie) für das eigene Wünschen und Wollen geeignet erscheint, hängt sicher auch von Werten und Lebensentwürfen ab, die wir vermittelt bekommen. Und davon wie unsere Ängste und unsere Sehnsüchte durch persönlichen Erfahrungen befördert oder begrenzt wurden.
Wichtig scheint mir, sich darüber klar zu werden, dass es kein Beziehungsmodell ohne Nachteile und ohne Konflikte gibt – innere wie äußere. Daher finde ich das Buch „Treue ist auch keine Lösung“ empfehlenswert, da es versucht, die Vor- und Nachteile beider Beziehungsmodelle gegenüber zu stellen. Und ebenso wichtig finde ich, sich mit Fragen zu konfrontieren, die jenseits des romantischen Liebesideals liegen, mit dem wir in aller Regel groß werden. Nur beispielhaft:
- Kann ich akzeptieren, dass mein Partner nur einen Teil meiner Bedürfnisse befriedigt, ohne ihm das zu verübeln, d.h. ohne ihm Vorwürfe zu machen, ihn zu verändern oder gar manipulieren zu wollen?
- Kann ich gleichermaßen akzeptieren, dass auch ich nur einen Teil der Bedürfnisse meines Partners befriedige, ohne mich oder die Beziehung deswegen in Frage zu stellen?
- Können wir beide akzeptieren, dass das sexuelle Begehren des Partners nicht nur mir gilt, in manchen Phasen sogar nicht mal vorrangig?
- Und falls ja, können wir es mehr als nur erdulden - im besten Fall bejahen als Teil der Lebendigkeit unserer Beziehung und jedes Einzelnen?
Doch unabhängig von der Beantwortung dieser Fragen bieten sich uns Entwicklungspotentiale durch die Auseinandersetzung mit dem, was wir inzwischen über Sexualität wissen (wissenschaftlich und durch persönliche Lebenserfahrung). Folgende Chancen zur individuellen Entwicklung einerseits und zur gesellschaftlichen Entwicklung andererseits sehe ich - auch auf dem Weg zu einem neuen Beziehungsmodell:
- Eine offenere weibliche Sexualität, die bereits im Übergang zum Erwachsenenalter ohne Scham in der Lage ist, die eigenen, individuellen körperlichen und sexuellen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äußern.
- Ein breites gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass sich das sexuelle Begehren im Laufe einer Beziehung verändert und sich damit auch die partnerschaftliche Sexualität verändern bzw. entwickeln muss. Und dass der Reiz des Neuen gegenüber dem „etablierten erotischen Standard“ im Laufe einer Beziehung an Verführungskraft gewinnt. Daraus folgt nach meiner Einschätzung: Offenheit und Experimentierfreude sollte entweder innerhalb oder außerhalb einer Beziehung (wenn auch nur phasenweise) ihren Platz finden.
- Die Qualität von Liebesbeziehungen und Vertrauen in einer Partnerschaft nicht mehr vorrangig an sexueller Exklusivität zu bemessen, sondern an gegenseitiger Unterstützung auf der Suche nach Sinn und Zufriedenheit. Die Worte „Ich liebe Dich“ bedeuten dann eher „Ich möchte, dass es Dir gut geht“ als „Du gehörst (zu) mir“ – mit allem, was dadurch an Akzeptanz und Toleranz erforderlich ist.
Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.
(Antoine de Saint-Exupéry)