Gesellschaftlicher und individueller Narzissmus
Dem Folgenden möchte ich voranstellen, dass ich hier bewusst von meinem üblichen Bemühen um Sachlichkeit und Objektivität abweiche. Ich habe festgestellt, dass ich das folgende Thema nicht behandeln kann, ohne dass mir „die Pferde durchgehen“. So lasse ich denn die Zügel schleifen.
Phänomen Narzissmus
Sieht man in Silvio Berlusconi eher einen Politiker, der seiner Verantwortung für die Menschen in seinem Land gerecht werden möchte, oder einen der größten europäischen Egozentriker (und verurteilten Kriminellen)? Hatte man bei Nicolas Sarkozy jemals den Eindruck, dass es ihm um mehr ging als Macht um ihrer selbst willen? Was hat einen Josef Ackermann dazu getrieben, das eigene Institut - und damit sich selbst - auf Kosten von Klein- und Großanlagern mit illegitimen bis illegalen Mitteln zu bereichern? Und warum weigert sich ein Adolf Sauerland (damaliger Oberbürgermeister Duisburgs) bis heute zumindest seine politische Verantwortung für die Loveparade-Katastrophe 2010 anzuerkennen?
Um all dies einordnen zu können, ist es hilfreich zu verstehen, wodurch eine narzisstische Persönlichkeit innerlich angetrieben wird. Ein starkes Handlungsmotiv sind Minderwertigkeitsgefühle und emotionale Bedürftigkeit, die durch starke Egozentrik sowie Kampf und Sieg kompensiert werden sollen. Erringt ein solcher Persönlichkeits-Typus mit diesen Mitteln schnell vorzeigbare Erfolge, resultieren daraus in der Regel suchthafte Bedürfnisse – z.B. nach grenzenloser Vermögensanhäufung, bedingungsloser Macht und/oder kritikloser Bewunderung.
Es wäre daher wünschenswert, dass diejenigen, die bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung unserer Gesellschaft nehmen, sich durch Authentizität und ein stabiles Selbstbild auszeichnen. Und eine Grundvoraussetzung für echten Selbstwert und Mitgefühl ist die Fähigkeit, empathisch mit sich und seiner Umwelt in Kontakt treten zu können.
Eins der wesentlichsten Probleme des Narzissten ist jedoch seine fehlende Beziehungsfähigkeit. Dies meint nicht nur zu den Menschen in seinem nächsten Umfeld sondern auch zu sich selbst. Denn Nächstenliebe setzt Selbstliebe voraus. Wir gehen mit anderen Menschen in der Regel so um, wie wir mit uns selbst umgehen. So stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Anreize und Rahmenbedingungen nehmen Einfluss darauf, wie wir mit uns selbst und unseren Mitmenschen umgehen. Sind empathisches Verständnis und Einfühlungsvermögen noch gesellschaftlich anerkannte Werte, die der fortschreitenden Entsolidarisierung entgegenwirken können?
Gesellschaftliche Entwicklungen
Die Entwicklung der noch wachsenden Volkswirtschaften (der „emerging markets“) in den letzten 25 Jahren lenkt vielleicht den Blick aufs Wesentliche. Denn spätestens mit dem gefeierten Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus zu Beginn der 90er Jahre erleben wir, dass die Führungselite aufstrebender Schwellenländer auf breiter Front „unsere“ Werte übernimmt: freie Märkte, möglichst ungebremstes Wachstum, Profitmaximierung als Wirtschaftsmotor. Und das ganz selbstverständlich – nämlich zu ihrem eigenen Besten! So, wie die Machtverteilung in unserem Gesellschaftssystem zurzeit organisiert ist, haben erfolgreiche Großkonzerne vielfältigste Mittel „politische Unterstützung“ zu leisten und dadurch auch ihren künftigen Erfolg zu sichern.
Die neuen Mittelschichten - kaum haben sie die Luft eines besseren Lebens geschnuppert - befürchten zu Recht, schon wieder abgehängt zu werden. Wir sehen ihnen in den Nachrichten zu, wie sie gegen Korruption und Vetternwirtschaft aufbegehren oder für mehr demokratische Teilhabe kämpfen. Ihnen gegenüber steht jedoch ein Macht-Kartell von Politikern und Wirtschaftsführern, die schon früh gelernt haben, dass emotionslose Analyse und Shareholder-Value-Denken die erfolgreichsten Fähigkeiten für beruflichen Aufstieg sind. Und auch im Zeitalter von Schulden- und Wirtschaftskrise stellen narzisstische Persönlichkeitsanteile weiterhin einen unbestreitbaren Vorteil dar beim Erklimmen der Karriereleiter. (Unter dem Titel "Selbstverliebtheit begünstigt steile Karriere" erschien hierzu im April 2013 ein ausführlicher Artikel in der Wirtschaftswoche-Online.)
Die gesellschaftlichen Normen unseres Spielcasino-Kapitalismus lauten: vergleichen, vermehren, besiegen, abgrenzen, konsumieren. Dies alles geht mit einer kaum gebremsten Maßlosigkeit einher, die auf der materiellen Seite in Vermögensanhäufung, Gewinnsucht und Schnäppchenjagd ihren Ausdruck findet. Hierdurch wird eine Klasse von Verlierern geschaffen, deren kaum verborgenes Elend durch die Notwendigkeit des Wachstum-erhaltenden Dauerkonsums jedoch gerechtfertigt scheint - zumindest der herrschenden Politikerklasse. Oder wie drückt es der Volksmund aus? „Haste nix, biste nix!“
Ausdrucks- und Erscheinungsformen
Die Analyse des Narzissmus zeigte bereits, dass früh entwickelte Schutzmechanismen dazu führen, Gefühle zu kontrollieren oder sie ganz zu verdrängen. Daher sind Leere und Langeweile narzisstische Begleiterscheinungen, die getriebenes Verhalten der Betroffenen nach sich ziehen. Extremvergnügen und Größenwahn sorgen für einen Dauerrausch, der die notwendige Gefühlsverdrängung sicherstellt. Statt des Auf und Ab echter Lebendigkeit herrscht Endorphin-getriebene Euphorie-Sucht.
Und wie bei jeder Sucht müssen zunehmend stärkere Reize her, um sich selbst nicht mehr zu spüren.
Unterstützt wird dies von einer noch nie da gewesenen Informations- und Sensationsflut, die erst das Internet mit seiner Beschleunigung fast aller Prozesse möglich gemacht hat. Hier sowie in der übrigen medialen Dauerberieselung finden all diejenigen, die nicht auf den Wellen des narzisstischen Selbst-Hypes mitsurfen können, ein umfangreiches Angebot, mögliche (Selbst-)Zweifel in einem Meer aus Belanglosigkeiten zu betäuben. Zu deren Augenfälligsten gehört der Personenkult um sogenannte Stars, die sich bei der massenhysterischen Suche nach Kurzzeit-Idolen darum reißen, zum Super-Zahnlückenpfeifer oder zum nächsten Hungermodel aufzusteigen. Und in den „Reality-Dokusoaps“ können wir uns dann noch die Bestätigung holen, dass es Anderen noch viel schlechter geht als uns.
Die beständige Zunahme von Müdigkeit, Traurigkeit, Antriebslosigkeit und depressiven Verstimmungen böte auch eine Chance zu erkennen, dass wir uns nicht wirklich seelisch genährt fühlen. Dass wir uns in einem Wertekorsett bewegen, das viel Schein, aber wenig Sein bietet. Statt diese Gefühle jedoch als Warnhinweise zu betrachten, greifen wir allzu leicht zu Medikamenten gegen Schmerz und Stimmungstiefs. Dies ist etwa so, als wenn wir der Warnlampe in unserer Autoarmatur dadurch begegnen, dass wir sie heraus schrauben.
Damit unsere negativen Gefühle auch wirklich keine Chance erhalten, sich ans Tageslicht des Bewusstseins zu wagen, drückt die pharmazeutische Industrie permanent neue, passende Lifestyle-Drogen in den Markt. Und wer sich diese nicht leisten kann, keinen willfährigen Arzt an seiner Seite hat oder gar härtere Sachen braucht, wird bei Bedarf von der osteuropäischen Chemieküche versorgt. – Schöne neue Welt!
Schlussfolgerungen
Im dargestellten, wechselseitig wirkenden Zusammenspiel von gesellschaftlichem und individuellem Narzissmus wird das Klima in unseren Gesellschaftssystemen zunehmend kälter und rücksichtsloser. Die Dauerdiskussion um die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich verpufft ergebnislos im Kampf darum, nicht selbst abgehängt zu werden. Der Blick auf die Staaten, die als gelehriger Schüler des „erfolgreichen Westens“ versuchen, ihren Anteil am schon verteilten Kuchen zu steigern, macht sichtbar: die größte gesellschaftliche Sprengkraft liegt nicht in kollektiver Armut sondern in sozialer Ungleichheit. Die narzisstische Gesellschaft lebt jedoch von sozialer Ungleichheit, denn auf wen sollen wir sonst herabblicken, um uns gut zu fühlen.
Dass die Jagd nach materiellem Besitz, Status und Anerkennung die Welt in immer tiefere Krisen treibt, wird zwar immer offensichtlicher, aber die, die es noch (oder bereits wieder) wahrnehmen, sind meist machtlos. Im Gipfel-berauschten Krisenmanagement der immer hilfloser wirkenden und agierenden Staatenlenker bleibt die Narzissmus-Elite unter sich. Und um dem Narzissten-Nachschub zu sichern, sorgen inzwischen schon die Hochbegabten-Kitas für die Vermittlung des entsprechenden Wertesystems: Englisch statt sozialer Verantwortung, Markenklamotten statt Chancengleichheit, Ego statt Toleranz. Gerade hier zeigt sich deutlich, dass der Narzisst nicht nur Täter, sondern auch Opfer seiner Sozialisation ist.
Die Suche nach einem Gegenmodell zum narzisstischen „Schneller, Höher, Weiter“ manifestiert sich unter anderem in der zunehmenden Sehnsucht nach einer neuen - meist fernöstlich geprägten - Spiritualität. In den letzten Jahren strömen daher immer neue Angebote in den Achtsamkeits-Markt, die den Gestressten und Überforderten Ruhe und meditative Einkehr versprechen. Da auch dieser Markt jedoch Narzissten eine wunderbare Plattform zur Selbsterhöhung bietet, hat der orientierungslos gewordene Sinnsucher zunehmend Schwierigkeiten, seriöse Angebote von esoterischen Heilsversprechern zur seelischen Runderneuerung zu unterscheiden.
All dies zusammen genommen treibt mich - in einer Mischung aus Wut und Enttäuschung - zu dem bedauerlichen Fazit, dass wir auch weiterhin für den narzisstischen Größen-, Wachstums- und Konsum-Wahn einen viel zu hohen Preis zahlen werden: einen rücksichtslosen, selbstsüchtigen Umgang mit den begrenzten Ressourcen der Erde, die damit einhergehende Umweltzerstörung sowie eine innere Haltung der Selbst- und Fremdausbeutung.
Glück ist das einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt!
(Albert Schweitzer)