Ego-Bedürfnisse emotionalisieren zusätzlich
Die große Komplexität menschlicher Gefühle setzt nicht nur das Bewusstsein der eigenen Existenz voraus, sondern auch die identitätsstiftende Vorstellung einer individuellen Persönlichkeit. Kinder beginnen etwa im Alter von zwei bis drei Jahren ein Selbstbild zu entwickeln, das sich im Laufe der Zeit immer weiter ausdifferenziert (in der Pubertät oft sehr bewusst). Der Mensch hat also nicht nur einen Körper, dessen Unversehrtheit er gegen äußere Gefahren zu verteidigen gelernt hat, sondern auch ein Ego, das verletzbar und folglich schützenswert ist.
Damit kommt - neben den Überlebensbedürfnissen und den Bindungsbedürfnissen - beim Menschen eine dritte Bedürfnisebene hinzu, die Fühlen (und Denken!) beeinflusst: „Ego-Bedürfnisse“, die das Selbstbild erhalten, stärken oder verteidigen sollen. Zu diesen Bedürfnissen zählen u.a.:
- die Einordnung der eigenen Fähigkeiten, Person und Stellung in den Gruppen, zu denen man sich zugehörig fühlt (z.B. Familie, Berufswelt, Altersklasse, Geschlecht etc.)
- ein auf die eigenen Belange bezogenes Gerechtigkeitsbedürfnis
- der Wunsch nach Kontinuität in der Wahrnehmung des Selbstbildes (= Bedürfnis nach Identität)
Aus dem ersten Punkt folgt ein ausgeprägtes Bedürfnis, sich mit Anderen aus diesen „Peer-Groups“ zu vergleichen, d.h. wo stehe ich bzgl. Ansehen, Aussehen, Besitz/ Einkommen, Intelligenz, Wissen etc. Das damit verbundene Konkurrenzdenken ist in der Regel bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen und bezieht sich mehr auf hierarchische Positionierungen, Macht, Autos und andere (zahlenmäßig) messbare Kriterien. So erklärt sich, dass jede Form von Statusverlust eine starke Kränkung des männlichen Egos darstellt. Frauen hingegen justieren ihr Ego eher durch Vergleiche auf der ästhetischen Ebene, also nach subjektiveren Kriterien (Attraktivität, Mode/ Schmuck, Wohnungseinrichtung, Gartenpracht etc.).
Hinter unserem Gerechtigkeitsbedürfnis steht ein instinktiver Wunsch nach einer ausgewogenen Balance zwischen dem, was wir geben, und dem, was wir dafür zurückerhalten. In dieser Hinsicht reichen bereits wenige negative Erfahrungen, um bei vielen Menschen ein wachsames Misstrauen gegen Übervorteilung zu entwickeln.
Das Stresspotential unserer Ego-Bedürfnisse
Die emotionale Basisstruktur bei der Befriedigung oder Verteidigung unserer Ego-Bedürfnisse liefern gleichfalls Angst, Wut, Freude und Trauer und die damit verbunden Körperprozesse (s. „unser evolutionäres Erbe“). Neid, Missgunst, Geiz, Scham, Eifersucht, Verachtung, Liebe oder Hass bedienen sich also der gleichen Hormone und Neurotransmitter, die sich in den Tausenden von Jahren vorher entwickelt haben, um das Überleben zu sichern und Bindungen einzugehen.
Da in nahezu jedem negativen Gefühls-Cocktail Angst oder Wut (oder beides) als Bausteine enthalten sind, erzeugt jedes dieser Gefühle Stresssymptome. Dazu gehört auch eine verminderte Fähigkeit, eigenes sowie fremdes Verhalten zu reflektieren. Je höher der Stresspegel steigt - also je mehr negative Gefühle zusammenkommen oder je intensiver diese sind -, desto weniger sind wir in der Lage, unser Denken und Handeln bewusst zu steuern. Und desto sicherer greifen wir auf alte Schutz-Verhaltensmuster zurück. Daher ist es auch zwecklos, in einem emotional aufgeladenen Konflikt an den Verstand zu appellieren, der stressbedingt auf ein notwendiges Minimum zurück gefahren wurde. Angriffs- und Verteidigungsmuster haben zum Schutz des Egos die Regie übernommen.
Hindernisse überwinden, ist der Vollgenuss des Daseins!
(Arthur Schopenhauer)